Tim Raue

Aroma(R)evolutionen

kochbuch

Aroma(R)evolutionen
Tim Raue:
"Aroma(R)evolutionen"
Erscheinungsjahr: 2008
240 Seiten
80 Rezepte
29,95 EURO
ISBN: 978-3884728024

Bewertung

Rezeptgenauigkeit
Originalität
Nachkochbarkeit
Gesamtbewertung
Aroma(R)evolutionen Bewertung: 5 Sterne von 6 möglichen.

Kochmonster-Kritik

Schinkeneisbein, Erbsbrei, jefüllte Bolle: Jahrzehnte lang erkannte jeder geübte Esser mit verbundenen Augen, dass er in einem Berliner Lokal sitzt. Doch die Hauptstadt holt inzwischen kulinarisch gewaltig auf – auch ein Verdienst von Tim Raues "Aromenrevolution".

 

Wer auf Reisen die jeweils regionalen Spezialitäten bevorzugt, weil diese oft am frischesten und gekonntesten zubereitet werden, fällt in Berlin schnell vom reinen Glauben ab. Die kennen keene Gnade: Blutwurst, Kassler Rippenspeer, Zicklein-Haschee (durchgedrehte Lunge und Herz), Spreewalder Gurken, Kohlroulade und (wieder mal Innereien) die berühmteste Schuhsohle des Landes – "Leber mit Apfel/Zwiebelringen und Kartoffelpüree". Muss man mögen.

 

Zum Glück ist aber in den letzten Jahren im Zentrum dieser urbanen Flächenverödung im Nordosten der Republik eine schicke, nagelneue, moderne Stadt namens "Mitte" aufgebaut worden, mit schicken, modernen Menschen und ebensolchen Gastronomiebetrieben. Berlin hat zehn Sternelokale und einen Zweisterner ("Fischer's Fritz") – und mit dem wilden Kochkünstler Tim Raue einen zweiten Aspiranten für den Doppelstern.

 

Der 35Jährige beköchelt seit Juni 2008 die "MA Restaurants" im Südflügel des Adlon: "MA Tim Raue", das "uma" und die Shochu Bar". Und das mit einer kreativen Entschlossenheit, die auch vom aktuellen "Gault Millau" mit 18 von 20 möglichen Punkten geehrt wird, was nur drei weiteren Berliner Köchen gelang.

 

Wer in den Zeiten der Realwirtschaftskrise Raues Kochabenteuerland angesichts der a la carte-Preise (Vorspeisen 36 bis 48 Euro, Hauptgerichte 46 bis 88 Euro) für eine Irrealwirtschaft hält, kann seit kurzem immerhin versuchen, diese Gerichte in der heimischen Küche nachahmen – anhand der "80 Rezepte zum Nachkochen" in dem Buch "Aromen(R)evolutionen". Das Nachkochen fällt anhand vieler Step-By-Step-Fotos kniffeliger Garmethoden angesichts der schwierigen Teller zumindest handwerklich geübten Hobbyisten überraschend leicht, nur am Ende, wo er "Meine elektrischen Küchengeräte" vorstellt, wird es auch für gehoben ausgestattete Privatküchen problematisch. Raue empfiehlt dort den "Paco Jet", eine Art Betonmixer für Gefrorenes. Die Kiste kosten schlappe 3000 Euro. Netto.

 

Entsafter, Paco Jet, Vakuumierer – alles Geräte, die primär in der so genannten Molekularküche eingesetzt werden. Raue verbeugt sich in dem Vorwort seines Buches denn auch tief vor Spaniens Avantgarde-Küchenpapst Ferran Adriá, der "für mich all das verkörpert, wonach ich mich in meinen Lehrjahren gesehnt habe: gedankliche Freiheit, Regellosigkeit, das ungezügelte Erkunden von Gargeheimnissen und Kreieren einzigartiger Kochkunstwerke".

 

Doch Raue ist natürlich so wenig "Molekularkoch" wie Adria, er traut sich einfach mehr als viele seiner Kollegen. Die Karte im "Ma Tim Raue" ist mit Entenleber, Hummer, Aalleber, Kabeljau oder Rebhuhn noch von diesem Stern, das Menü "Aromen Revolution" (6 Gänge, 118 Euro) gibt mit Seegurken,  Schweinekinn und Kalbskamm schon deutlich mehr Gas – aber so richtig auf die große Pfannenpauke haut er in seinem Kochbuch.

 

Die dort gezeigten Rezepte sind mit ihrer konsequenten Verwendung sonst eher verschmähter Fleischstücke im besten Sinne Berlinerisch, schießen den Genießergaumen dessen ungeachtet aber in immer weiter entfernte Gourmet-Galaxien: "Jasminteebrühe mit Entenzungen" "Seeigel mit Wakame-Popcorn", "Heilbutt Gin Tonic", "Schweinsfußröllchen mit Paprika", "Hahnenkamm mit grünen Mandeln", "Rehherz mit schwarzer Kreuzkümmeljus" oder "Blumenkohl in Hühnerfußgelee" – alles unerhört, unerwartet und vor allem unglaublich spannend.

 

Die Aromen-Orgie gipfelt schließlich in einem Gericht, das aussieht, als habe Heinrich Zille persönlich in einer Skulptur-Karikatur aus Innereien, Ziegenmilch und grünen Erbsen einen typischen Sündenpfuhl der wilden Berliner 20er Jahre nachmodelliert: Bei Raues "Gepökelte Lammzunge Mit Ziegenmilchbechamel, Kohlrabi und Erbsen in Limettenfond" treiben die Zutaten wahrhaft ungeschützten Gruppensex.

 

Fazit: Bei allen Hobbylöffelschwingern, die sich was trauen wollen und sich extrem exaktes Arbeiten über Stunden in der Küche auch realistisch zutrauen, gehört dieses Buch zwingend ins Kochbuchregal. Ganz vorne.

 

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Rezensent

Peter Wagner

Peter Wagner

Kocht länger als er für Geld schreibt – seit 1976. Der Musikjournalist lebt in Hamburg und liebt alles, was mit Verstand und Hingabe aus frischen Zutaten zubereitet wird. Seit 2007 schreibt er die Samstags-Kolumne „Tageskarte“ auf Spiegel online. Weitere Infos bei seiner Agentur kochtext...

monsterkoch@kochmonster.de
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