Ferran Adriá

Ein Tag im elBulli

kochbuch

Ein Tag im elBulli
Ferran Adriá:
"Ein Tag im elBulli"
Erscheinungsjahr: 2009
528 Seiten
31 Rezepte
49,95 EURO
ISBN: 978-0714858951

Bewertung

Rezeptgenauigkeit
Originalität
Nachkochbarkeit
Gesamtbewertung
Ein Tag im elBulli Bewertung: 5 Sterne von 6 möglichen.

Kochmonster-Kritik

Kaum einer polarisiert Köche und Genießer so stark wie der Spanier Ferran Adriá. Dennoch – wahrscheinlicher aber gerade deshalb – wurde sein „elBulli“ schon zum vierten Mal „Bestes Restaurant der Welt“. Zu Recht, wie allein das Studium seines neuen Buches beweist.

 

So wie bei vielen Musikkritikern das Hören einer neuen CD vor dem Verfassen der Plattenkritik als unnötige Ablenkung vom Wesentlichen gilt, sind auch die Meinungen zu Ferran Adriás Kochkunst in über 90 Prozent der Fälle von keinerlei persönlich gemachten Eindrücken getrübt. Denn im „elBulli“, nach 2002, 2006 und 2008 nun schon zum vierten Mal vom britischen Fachblatt „Restaurant Magazine„  als „Bestes Restaurant der Welt“  gekürt, hat (gemessen allein an der Gastronomiekapazität Nordspaniens) kaum einer: Für die gerade mal 8.000 Gourmets, die jährlich bewirtet werden können (50 Personen täglich an 160 Saisontagen) gehen etwa zwei Millionen Reservierungsanfragen ein, und auch auf die zehn bis zwanzig neu zu besetzenden Küchenstellen bewerben sich jedes Jahr mehr als 2.000 Köche aus aller Welt.

 

Wer dennoch einen Platz ergattert hat (200 Euro pro Menü; Weinkarte mit 1.600 Positionen), für den arbeiten in Küche und Service mehr Mitarbeiter als Gäste (60-70 Angestellte). Und sie komponieren und kredenzen ihm 28 bis 35 kleine Gerichte, wo nötig angepasst an die vorher abgefragten Ernährungs- und Gesundheits-Spezifika des Gastes.

 

Adriá, seit 1997 ohne Unterbrechung mit drei „Michelin“-Sternen ausgezeichnet, hat längst die klassische Speisefolge abgeschafft, statt dessen teilt er die Tellerreihenfolge in Cocktails, Snacks (auch an der Stelle von Brot und Butter), Tapas-Gerichte (die eigentlichen „Hauptspeisen“), Avant-Desserts (Übergänge von der herzhaften zur süßen Welt wie Mango-Ravioli-Kugeln oder Süßkartoffelpüree mit Vanille), Desserts und Morphings (sehr eigenwillige petit fours-Varianten).

 

Nachzulesen ist das alles und noch viel mehr in dem prächtigen, sauschweren Wälzer „Ein Tag im elBulli“, das mit seinen 31 zum Teil auch für den Profi kaum nachkochbaren Rezepten (ein komplettes „Menü“) kein Kochbuch sein will, aber trotzdem in das Regal eines jeden Kochschaffenden gehört, für den Nahrungszubereitung mehr ist als nur erlerntes oder intuitiv reproduziertes Rühren, Braten und Köcheln.

 

Denn Adriá verrät hier mit 1.100 Fotos und etlichen aufschlussreichen Textseiten (die im verkleinerten Format wie Info-Beihefter wirken) den kompletten Jahres- und Tagesablauf seines Projektes, das er mit Dutzenden Mitarbeitern auch in der Zeit, in der das Restaurant geschlossen ist (November bis April) in zwei hochtechnisierten Versuchsküchen ständig weiterentwickelt.

 

So erfährt der staunende Leser hier, wie akribisch Adriás Team Zutaten, Garmethoden und Technologien kategorisiert, systematisch katalogisiert, über jedes Experiment exakt Buch führt, und sogar ihre kreativen Abläufe methodisiert („Assoziation, Inspiration, Adaption, Dekonstruktion, Minimalismus“).

 

© Courtesy Ferran Adrià / Phaidon Verlag 

 

Dass die menschlichen Sinne Dreh- und Angelpunkt einer jeden Überlegung in der Küche sein müssen – diese Aussage wird wahrscheinlich jeder Koch, ob Profi oder ambitionierter Hobbyist, sofort bejahen. Doch nur Wenige machen sich derart strukturiert Gedanken zu diesem Thema wie das Adrià-Team, bis hin zum Hören (z.B. wie beeinflusst das gehörte Knuspern von Karamell oder Chips die Wahrnehmung des Essens).

 

Neben dem, klar, Schmecken, wird das Riechen im El Bulli auch mit Hilfe eigens entwickelter Löffel-Konstruktionen gezielt mit teilweise konträren Aromen angesprochen. Bei „Orangen-Nitro-Sorbet mit Ballon“ entweicht während des Essens aus einem Ballon langsam Luft, die mit Orangenblütenöl aromatisiert wurde.

 

Das Auge isst auch in Spanien mit, wird durch Adriás Dekonstruktionsspieltrieb aber oft gezielt getäuscht, indem er bestimmte Speisen in ein völlig anderes optisches Mimikry überführt. Das Fühlen, also primär die Faktoren Temperatur und Konsistenz, wird im Bulli durch Abdeckung des gesamten Temperaturbereiches, der dem menschlichen Mund zumutbar ist (-20° bis + 65°) ebenso voll ausgereizt wie das kompletet Spektrum von weich bis knusprig – oftmals auch hier mit großen Überraschungen: Bereits 1994 entwickelte Adriá das Gericht „Texturierter Gemüse-Panache“, bestehend aus den ungewohnten Konsistenzen Mandelsorbet, Blumenkohl-Mousse, Tomatenpüree, Rote-Bete-Schaum, roher Avocado, Balisikum-Gelee und Mais-Mousse.

 

Klar, dass man als „Bester Koch der Welt“ die Essbereitschaft der Gäste auch immer wieder bis zum Letzten ausreizen muss. „Wir haben in Katalonien die Gewohnheit, Scampi die Köpfe auszusaugen“, erklärt Adriá in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung den Hintergrund zu seinem Gericht Seeanemonen mit Austern und Kaninchenhirn.  „Diese Kultur, Frische zu genießen hat auch etwas sehr Radikales. Das steckt im Gericht. Kaninchenhirn haben wir im El Bulli schon seit 20 Jahren auf der Speisekarte. Es ist geschmacklich viel besser als Kalbs- oder Lammhirn - und schafft Harmonie zur Textur der Seeanemone. Die Auster dient dazu, den Meeresgeschmack noch zu verstärken. Schon während der Testphase wusste ich, dass dies ein schwieriges Gericht für den Gast sein wird.“

 

Fazit: Wer sich die teuren ElBulli-Jahrbücher nicht antuen möchte, findet weit und breit keinen hochwertigeren, analytischeren und sehenswerteren Einstieg in die komplexe Kulinarik-Paradigmen des Besten Koches der Welt.

 

 

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Rezensent

Peter Wagner

Peter Wagner

Kocht länger als er für Geld schreibt – seit 1976. Der Musikjournalist lebt in Hamburg und liebt alles, was mit Verstand und Hingabe aus frischen Zutaten zubereitet wird. Seit 2007 schreibt er die Samstags-Kolumne „Tageskarte“ auf Spiegel online. Weitere Infos bei seiner Agentur kochtext...

monsterkoch@kochmonster.de
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