Simone und Inés Ortega

1080 Rezepte

kochbuch

1080 Rezepte
Simone und Inés Ortega:
"1080 Rezepte"
Phaidon Verlag
Erscheinungsjahr: 2008
976 Seiten
1080 Rezepte
39,95 EURO
ISBN: 978-0714899756

Bewertung

Rezeptgenauigkeit
Originalität
Nachkochbarkeit
Gesamtbewertung
1080 Rezepte Bewertung: 3 Sterne von 6 möglichen.

Kochmonster-Kritik

Irgendwann wurden Filme immer länger. Wer keine 155 Minuten runterkurbeln konnte, galt als flach, völlig wumpe, dass Lubitsch, Sturges & Wilder mit zweistelligen Minutenzahlen ziemlich tief ins menschliche Sein getaucht waren. Ist diese Mode jetzt beim Kochbuch angelandet? Erst das italienische Mammutwerk „Der Silberlöffel“ mit knapp 2.000 Rezepten. Jetzt eine spanische Variante, aus dem gleichen Verlag, Phaidon. Der tut sich normalerweise exquisit mit solchen Folianten hervor, vorrangig jedoch zu Design, Architektur, Kunst. Jetzt haben sie zwei Mordwaffen hintereinander auf den Markt gebracht (da gibt’s diesen Film vom frühen Almodóvar, wo eine gefrustete Putz- und Ehefrau das Mordwerkzeug verkocht...)

 

Damit sie nicht zählen muss, was diese Rezensentin sehr erfreut, steht im Buchtitel, wieviele Rezepte es gibt. 1080. Alle aus Spanien.

 

Spanische Küche in 1080 Rezepten und mit drei Lesebändchen. What’s next? Die Küche im Oberen Dourotal als Subskription? Warschau und seine knackige Gemüseküche, im Schuber? Mit anderen Worten: Spanien – dieser Dreiklang aus Fleisch, Fett und Ferran Adrià, verewigt auf beinahe 1.000 Seiten. Blanker Irrsinn?

 

Das uneingeschränkte Lob vieler Leser und Rezensenten kann diese Rezensentin jedenfalls nicht teilen: Auch Real Madrid ist längst nicht so gut wie man liest. Wenn sie den Autorinnen, einem Mutter-Tochter-Gespann, Böses wollen würde, könnte sie behaupten, die wichtigste Zutat in ihrer Küche sei Mehl. Es kommt einfach überraschend häufig vor und sowieso fast an jedem Saucenrezept. Nicht minder überraschend ist der völlig ungenierte Einsatz von Brühwürfel und Fleischextrakt sowie Gemüse aus Konserve oder Glas. Beim Spargel fällt das einer Deutschen besonders auf; immerhin stehen die Stangen bei uns kurz vor der Heiligsprechung. Aber Spanien ist ein Topexporteur. Wieso keine Frischware?

 

Vielleicht, weil viele Rezepte aus der häuslichen Küche stammen. Das ist nicht nur in Spanien keine besonders gute Idee. Denn Ferran Adrià & Co. haben ja nicht nur international, sondern auch im eigenen Land für enorme Wallungen gesorgt, weil es höchste Eisenbahn für eine neue spanische Küche war. Schönes Beispiel: Kichererbsen. Ein Superfood, das in Deutschland noch nicht gewürdigt wird, dabei  ideal in unsere wirtschaftliche Neuzeit passt. Eine schöne und im Süden klassische Kombination ist mit Sherry oder Brandy. Warum? Diese sprittigen Aromen lösen den muffigen Charakter von Hülsenfrüchten, verkochen sich und geben nur noch einen feinen Kick, vergleichbar dem Einsatz von Sake in der japanischen Küche. Und was macht dieses Buch? Hier gibt’s Natron ins Kochwasser und Möhren oder Zwiebeln oder Tomaten oder Knoblauch... na, Sie wissen schon. Hatte die Rezensentin Möhren schon erwähnt?

 

In einem Basiskochbuch wie diesem über einen Linsensalat mit Puy-Linsen zu schreiben, dass diese gekocht werden, bis sie gar sind, ist Faulheit auf Seiten der Autorinnnen, tut mir Leid. Diese Linsen zu erwischen, nachdem sie bissfest sind und bevor sie sich zu Pampe montieren, ist gar nicht so leicht, wie auch diese Rezensentin aus eigener Erfahrung weiss und exakt das sollte hier stehen.

 

Über den Reisrezepten ist diese Rezensentin eingenickt. Bei den Kartoffeln nahm sie im Schlaf zu. Als sie mit drei Kilogramm mehr auf den Rippen wieder aufwachte, befand sie sich am Ende eines Lesemarathons, doch in Wahrheit erst auf Seite 194. Erlebte Mark Twain nicht ein ähnliches Phänomen, als er seine erste Wagneroper in Bayreuth hörte? Wobei sich diese Rezensentin nie mit Mark Twain würde messen wollen; den verehrt sie zutiefst. Dieses Kochbuch? Verehren? Öhm.

 

Unterbrochen werden die 14 Kochkapitel von Fotos. Nie so viele wie angegeben, fast immer fehlen ein, zwei Doppelseiten oder kommen zweifach. Überdies sind sie dunkel, mantschig, doof. Wahrscheinlich sollen sie rustikal wirken. Die Illustrationen von Javier Mariscal, die sich durch das ganze Buch hindurchziehen, sind freundlich, appetitlich und auf eine sehr moderne Weise im Retrostil gehalten. Wenn das „1080 Rezepte“ nur auch so wäre!

 

Makkaroni mit Thunfisch und Gruyère. Spaghetti mit Dosenerbsen und Muscheln. Fantasiesalat. Das klingt nicht nach Prado, sondern nach „Zehn nackte Friseusen“. Diese Rezensentin hat gar nichts gegen Fett und hält im Gegenteil Gänseschmalz für ein Lebenselexir, doch einen Sauerampfer in Ölwellen zu frittieren, was soll das? Eine baskische Piper(r)ada aus Tomaten, etwas grüner Paprika und Wogenschlägen von Olivenöl zu machen, das kann jeder Ronaldo an der Ecke besser; wenigstens wird er die verschlagenen Eier nicht vergessen, die zu diesem Standardrezept gehören.

 

Seehecht mit Zwiebeln? Klingt gar nicht schlecht. Könnte man einen Fisch aromatisieren und im Bett bei leichter Hitze lange mit etwas... nö. Hier werden TK-Fischsteaks gewünscht, Zwiebeln in Öl gebraten, der Fisch wird oben drauf geklatscht, gart dem Saft von 1 Zitrone. Das ist nicht spanisch. Das ist blöd.

 

Nächstes Rezept. Paniertes Hirn ist ein schönes Stichwort für Rock’n’Roll. Die Rezensentin ist erleichtert, dass für dieses Rezept wahlweise Kalbs- oder Lammhirn verwendet werden kann. Auch in einer Grossstadt wie Hamburg ist die Auswahl an Hirn begrenzt, beim Metzger und in der Politik. Schön, dass als Einführung immerhin erwähnt wird, dass Hirn generell so lange mit Wasser durchspült werden muss, bis sämtliche sichtbaren Blutspuren abgewaschen sind.

 

Die Rezensentin wendet sich den Desserts zu. Die klassische Konditorcreme auf Spanisch geht mit 4 Eigelben, knapp 200 g Zucker, 1 TL Mehl, 2 gehäufte EL Speisestärke, 1 l Milch, Vanillestange. Himbeer-Bavarois mit roter Lebensmittelfarbe eingefärbt. Moment, hier, das klingt interessant: Weintrauben-Orangen-Kompott mit unbehandelter Orange. Unbehandelt heisst: nach der Ernte unbehandelt. Ist das wichtig? Im Rezept steht nicht, ob die Orange geschält werden soll. Wenn nein, sollte da Bioorange stehen. Die wird weder vor noch nach der Ernte behandelt. Wenn die Orange geschält werden soll, reicht eine aus dem Supermarkt. Oder doch nicht? Ist das Aroma besser?

 

Fazit: Je nach Geschmack ein Mammutwerk oder ein Fossil. Wenn Sie Spanien lieben, mögen Sie dieses Buch, weil es Sie an Spanien erinnert. Wenn Sie gerne spanisch essen, steigen sie lieber in Barcelona sehnsüchtig und hungrig aus dem Flieger und gehen in die nächste Tapas-Bar. Egal, welche. 

 

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Rezensent

Gabriele Gugetzer

Gabriele Gugetzer

Gabriele Gugetzer holte sich einen M.A. in Südkalifornien, lebte in London und schreibt seit vielen Jahren über Essen und Trinken. Sie hat über 20 Kochbücher herausgebracht, ist Feuerwehr- und Schottlandfan und die Reisereporterin der Zeitschrift "LandGenuss". "Nach einem Backbuch kommt sie mit ihrem aktuellen Projekt – zur Buchmesse auf dem Markt – ihrer Lieblingsstadt wieder näher. "Indische Küche in London" heißt es.

gugetzer@kochmonster.de
www.kochmonster.de