Thomas A. Vilgis, Thomas A. Vierich

aroma – die Kunst des Würzens

kochbuch

aroma – die Kunst des Würzens
Thomas A. Vilgis, Thomas A. Vierich:
"aroma – die Kunst des Würzens"
Erscheinungsjahr: 2013
512 Seiten
160 Rezepte
39,90 EURO
ISBN: 978-3868510720

Bewertung

Rezeptgenauigkeit
Originalität
Nachkochbarkeit
Gesamtbewertung
aroma – die Kunst des Würzens Bewertung: 6 Sterne von 6 möglichen.

Kochmonster-Kritik

Alle kochen nur mit Wasser. Und mit Dipropyltrisulfid, Thymiol, Dimethyldisulfid, Allicin oder (R)-1-Octen-3-OL. Dahinter steckt kein neuer Skandal der Lebensmittelchemie, sondern wichtige Aromastoffe in den Zutaten. Deren Wirkung auf unser tägliches Kochen erklärt nun eines der besten Fachbücher der letzten Jahre.

 

Nach langer Sendepause mal wieder eine Frage an Radio Eriwan: Muss man Moleküle wie Dimethyldisulfid, Allicin oder gar (R)-1-Octen-3-OL kennen, um ein Gericht wie Lamm mit Bärlauchrisotto und Pilzrahmsauce kochen zu können? Die Antwort ist eindeutig wie immer: im Prinzip nein, aber. Dieses „Aber“ gilt noch heute für die meisten Menschen, die gerne kochen. Die kleine Minderheit, die das in der Hobbyküche praktisch erwerbbare Nahrungsmittelwissen vertiefen will, stand bis vor zehn Jahren noch wie der Ochs vorm Berg. Das ändert sich nun drastisch.

 

Im Kern geht es um die Leistung von Übersetzern, die das über Jahrzehnte kompilierte Wissen der Lebensmittelchemie in Forschung und Industrie auch für Halblaien an den Kochtöpfen halbwegs verständlich herunterbrechen. Im deutschsprachigen Raum hat sich Thomas A. Vilgis, Professor für Theoretische Physik an der Uni Mainz und im Nebenberuf Leiter der Arbeitsgruppe „Molekulare Lebensmittelwissenschaften“ am Max-Planck-Institut für Polymerforschung dieser Lebensaufgabe angenommen und in Dutzenden von Büchern Köche aller Professionalitätsklassen den Durchblick durch das Molekulargewühl in Topf und Pfanne verbessert.

 

Sein aktuelles und für viele Praktiker vielleicht wichtigstes Werk ist denn auch nicht bei einem der klassischen Kochbuchverlage erschienen, sondern bei der Berliner Stiftung Warentest: Auf über 500 Seiten erklärt Vilgis zusammen mit dem Gastrojournalisten Thomas A. Vierich in „aroma“* die feinen und feinsten geschmacksbildenden Details Hunderter von Zutaten, immer mit kurzer molekularchemischer Analyse, oft auch mit kleinen Anekdoten zu Herkunft und Historie, sowie – und dafür gibt es das große goldene Fleißkärtchen mit Band und Schleife – zu jedem Eintrag auch eine kleine Harmonie-Matrix über die Beziehung zu anderen Lebensmitteln, eine geographische Einordnung und ein paar brauchbare Tipps zu Einkauf und Lagerung.

 

 

In der Summe ergibt das eine Detailfülle, mit der ein täglich arbeitender Berufs-Kochschaffender gut und gern fünf Jahre lang immer wieder neue Kombinationen kochen könnte. Beim ambitionierten Hobbyisten reicht der Stoff für gefühlte eineinhalb Leben, zumal der Untertitel „Die Kunst des Würzens“ sich nicht auf Pfeffer&Salz beschränkt – bei Vilgis ist jede Komponente vom Pilz bis zur Pimpernelle zugleich Zutat wie auch Teil des Würzhorizontes.

 

Zwischengestreut finden sich einfache Rezepte, die keine große Kochkunst sein wollen, sondern nur den Anspruch erfüllen, das jeweilige Aroma-Pairing-Thema handwerklich plausibel umzusetzen. Das zum Thema passende, sehr nüchterne Foodstyling der Zutaten dieser Rezepte, stammt von Frauke Koops, die seit Jahren ebenso für die oft schwierig nachkochbaren aber stets schön anzusehenden Teller-Arrangements der Besseresser-Zeitschrift „Feinschmecker“ sorgt.

 

Abgerundet wird das Buch von einer ausführlichen aberstets lesbaren und verständlichen Einführung in die wissenschaftlichen Grundlagen unserer Geschmackssinne inclusive umami und kokumi, in die Strategien der Würzpraxis sowie in die Historie der Essenszubereitung und der Gewürzgeschichte.

 

Kein Wunder also, dass selbst einer der fünf besten Köche Deutschlands, der Dreisterner Sven Elverfeld vom Restaurant Aqua in Wolfsburg, ohne den „dicken Vilgis“ nicht mehr einschlafen mag: „Das Buch ist ein außergewöhnliches Nachschlagewerk für kreative Köpfe. Wer die Hintergründe und Zusammenhänge des Geschmacks und vieler Gewürz- und Lebensmittelkombinationen verstehen möchte, bekommt einen detaillierten Überblick. Wie genau hier auf die sensorischen Eigenschaften vieler Produkte eingegangen wird, ist wirklich außergewöhnlich.“

 

Das führt uns zurück zur Ausgangsfrage: Was nutzt all dieses Wissen, wenn wir am Wochenende für unsere Lieben ein Hauptgericht wie „Lammfilets im Kräutermantel mit Bärlauchrisotto und Morchelrahm“ kochen wollen? Nun, zum Beispiel wissen wir nach der Vilgis-Lektüre nicht nur, dass der Bärlauch in diesem Risotto nicht von Beginn an mitgekocht werden darf, sondern endlich auch warum: Die das lauchig-frisch-grüne Aroma (und genau darin liegt ja der Unterschied zum grobmotorischen Verwandten Knoblauch) bestimmenden Moleküle, in dem Buch exakt aufgedröselt, werden erst beim Anschneiden der Zellwände (also beim Kleinhacken) sensorisch aktiviert und sind hochgradig temperatursensibel.

 

Noch ein Beispiel: Was lässt uns die Kombination von Ziege, Thymian, Dattel und Kumquat so schlüssig schmecken? Dattel und Orangenfrüchte vereint die beiden chemisch engst verwandten Kopfaroma-Moleküle Geraniol und Geranial ebenso harmonisch wie das rosig-frische Aromenpaar Neral und Nerol bei Orange und Thymian, der wiederum sein Thymol mit einigen Zitrusfrüchten teilt, während das antiseptisch wirkende Carvacrol für Mund-und Darmgesundheit der Ziegen sorgt, die das Kraut liebend gerne fressen.

 

Damit das alles nicht graue Theorie bleibt, haben Grafik und Lektorat für eine in dieser Übersichtlichkeit uns Schlüssigkeit bislang noch ungesehene Farb- und Schaubild-Systematik gesorgt. Mehr geht in Print nicht, „aroma“ ist in Sachen Navigation und Systematisierung von Information im besten Sinne die letzte mögliche Evolutionsstufe des gedruckten Buches. Danach kommt nur noch elektronisches Publizieren.

 

Ein Bereich, diese kleine Exkursion am Ende sei gestattet, der sich auch im Internet in den letzten Jahren rasant entwickelt und das Food-Pairing professionalisiert und perfektioniert hat. Hier ein paar der besten Beispiele:

 

Der Algorithmus-basierte Ansatz des belgischen Aromenforschers Bernard Lahousse Foodpairing   mit seinen Hunderten von komplexen Aromen-Schaubildern beschert auch als iOS-App die Kombinatorik aus über 1000 Lebensmittel für den Kochalltag.Allerdings bleibt Lahousses Auswahl willkürlich und sein hinter allen Paarungen stehender Algorithmus geheim – letztlich also eine Art Black Box, der man vertrauen kann. Oder auch nicht.

 

Wer lieber horizontal, also im Schwarm, lernen möchte, ist bei den kleinen Pairing-Wettbewerben gut aufgehoben, die der norwegische Chemiker und Kochwissenschaftler Martin Lersch seit 2007 unter dem Motto „TGRWT – They Go Really Well Together“ auf seinem Blog blog.khymos.org/tgrwt/ ausruft. Jede Runde hat ein Thema mit teilweise extremen Kombinationen wie „Apfel & Lavendel“, „Tomate & Schwarztee“ oder „Blumenkohl & Kakao“, zu denen die User dann ihre eigenen Rezeptkreationen einreichen können. Die sehen nicht immer gelungen aus, dennoch kann TGRWT gerade durch die Internationalität der Teilnehmer interessante Anregungen liefern, wenngleich ohne jeglichen wissenschaftlichen Hintergrund.

 

Analytischer und wesentlich transparenter arbeitet schon seit 1992 das Team um Englands besten Koch, Heston Blumenthal, und François Benzi, Lebensmittelchemiker bei dem Schweizer Unternehmen Firmenich, weltweit größter Entwickler und Anbieter von Aromen- und Geruchsstoffe für die Parfüm- und Ernährungsindustrie. Beide betreiben mit weiteren Wissenschaftlern seit 2002 die Online-Datenbank „Volatile Compounds in Food“Volatile Compounds in Food vcf-online.nl in der täglich aktualisiert die typischen Aromenstoffe von Lebensmittel kartographiert werden.

 

Selbst Blumenthals legendäre Kombination von weißer Schokolade und Kaviar fußt in dieser Datenbank, die für beide das Leit-Aroma-Molekül Trimethylamin ausweist. Und dass fast jeder Tomaten so gerne mit Basilikum zusammen genießt, mag auch daran liegen, dass sie sich den Schlüsselstoff (Z)-3-Hexanal teilen. Mittlerweile sind bei VCF etwa 8000 Aromamoleküle von 675 Lebensmittel erfasst und per multirelationaler Verknüpfungsoption auch beliebig über Kreuz durchsuchbar.

 

Leider ist diese Suche ein teurer Spaß, denn die Voll-Lizenz für unbeschränkten Zugriff auf die im Kern schon seit 1963 entwickelte VCF kostet satte 1100 Euro Nutzungsgebühr pro Jahr. Die kostenlose, sehr abgespeckte Demo-Version auf der Website bringt den Hobby-Koch nicht weiter, aber vielleicht langt es für den Hausgebrauch ja auch, erst einmal die nächsten drei Jahre mit den komplexen Pairings von „aroma“ zu verbringen.

 

Fazit: „aroma“ wird für Jahre das Standardwerk in Sachen wissenschaftlich basierter, aber stets Heimküchen-orientierter Speisenverbindungen bleiben. Selten hat ein Buch die Auszeichnung „Goldene Feder“ für das beste Genusswerk des Jahres so verdient.Gemessen an dem, was man bei vielen Sterneköchen für ein doppelt so teures Kochbuch bekommt, müsste "aroma" mindestens 20 Euro mehr kosten. Und wer als Koch – von der gehobenen Hobbyküche über die Berufsausübenden bis hinauf in höchste Sternenweihen – dabei nur „Bahnhof“ versteht, muss nicht verzagen: Einfach im Zug sitzen bleiben und ins kulinarische Nirgendwo zurückfahren.

 

 

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Rezensent

Peter Wagner

Peter Wagner

Kocht länger als er für Geld schreibt – seit 1976. Der Musikjournalist lebt in Hamburg und liebt alles, was mit Verstand und Hingabe aus frischen Zutaten zubereitet wird. Seit 2007 schreibt er die Samstags-Kolumne „Tageskarte“ auf Spiegel online. Weitere Infos bei seiner Agentur kochtext...

monsterkoch@kochmonster.de
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