Harald Wohlfahrt an der Ostsee

Duell der Sternepfannen: Wohlfahrt (r.) kocht bei Niemann

Auswärtssieg

Harald Wohlfahrts Gastspiel beim Schleswig-Holstein-Gourmetfestival 2010

Seit Jahrzehnten unangefochten der beste Koch Deutschlands und einer der längsten Sterne: Harald Wohlfahrt, im Herbst 1980 zum Küchenchef im Restaurant "Schwarzwaldstube" im Hotel Traube Tonbach ernannt, holte sich 1992 den dritten Stern – und gab ihn seitdem nie wieder ab. Bei Wohlfahrt essen zu wollen, bedeutet zunächst einmal, sehr, sehr lange zu warten; unter einem Dreiviertel Jahr Vorreservierungszeit geht nichts – und da reden wir noch nicht einmal von Freitag oder Samstag Abend.

 

Umso begehrter sind denn auch die wenigen Ausflüge, die Deutschlands wahrer Meisterkoch in die Küchen seiner Kollegen unternimmt. Regelmäßig gibt er Gastspiele in Mannheim beim „Ball der Sterne, sowie im Rahmen des "Schleswig-Holstein Gourmetfestival" seit 18 Jahren jeden Herbst zwei Abende bei seinem Einsterne-Kollegen Lutz Niemann in der „Orangerie“ im Seehotel Maritim Timmendorfer Strand an der Lübecker Bucht. Dort gibt es jährlich für die zwei Mal 60 freien Plätze über 1.000 verbindliche Anfragen von Feinschmeckern aus dem Norden. Die Chance, eine Bestätigungsmail zu bekommen, liegt also nur knapp über dem Lottogewinn.

 

In diesem Jahr kam die mail.

 

 

Die Frage, ob Dreisterne-Küche auch drei Mal so gut schmeckt wie Einsternmenüs lässt sich bei Gastkoch-Auftritten naturgemäß nur rudimentär beantworten, denn der Star greift zwar auf eine eingespielte, prämierte Brigade zurück und kann bei den teilweise gleichen Lieferanten (z.B. Rungis, bosfood, Otto Gourmet etc.) ordern, muss letztlich aber mit dem kochen, was er vorfindet. Und wer von den drei Köpfen in der „Orangerie“-Küche – Wohlfahrt, Niemann und dessen exquisiter Souschef Thomas Lemke – welchen Komponenten nun den letzten Schliff gegeben hat, könnte ohnehin nur in weitaus längeren Gesprächen mit den Köchen geklärt werden, als es die kurze Verweildauer bei der Ehrenrunde an den Tischen erlaubt.

 

Doch letztlich ist es Wohlfahrt, der als Gast-Chef jeden rausgehenden Teller durch seine scharfe Lesebrille kontrolliert, die an Abenden wie diesem seltener als in der heimatlichen Traube lässig am Zugband vor der Brust baumelt.

 

Um das Fazit frecherweise vorwegzunehmen: Nicht alles, was auf den Tisch kam, hatte echte Dreisternegröße, und dennoch war das Menü das beste, was ein Gernegutesser nördlich der Linie Wolfsburg/Osnabrück (Aqua***/ La Vie**) an Haute Cuisine bekommen kann – mit Ausnahme vielleicht der richtig guten Tage eines Johannes King** auf Sylt.

 

Doch erst mal alles schön der Reihe nach.

 

Amuse gueule

 

 

Petersilienflan mit Trüffel und Gelee | Kaninchenterrine mit Früchtebrot, Dörraprikose & schwarzer Nuss | Foie gras Perlen auf Bisquit mit Pfefferkaramell.

 

Ein Gaumenkitzler, der offenbar teilweise von Thomas Lemke stammte – zumindest erinnerte die nur mit Gelatine und komplett ohne Teig-Hilfe ihre strukturelle Identität tapfer bewahrende Kaninchenterrine an Lemkes langjährigen Lehrmeister, den Zweisterner Jean-Claude Bourgueil aus dem Düsseldorfer „Schiffchen“. Wie großartig die gute alte Terrinenkunst schmecken kann, hatten wir über all den spannenden Avantgarde-Dekonstruktionen der vergangenen Jahre fast vergessen.

 
 

Vorspeise

 

 

Ebenso etwas in Vergessenheit geraten ist die euro-asiatische Crossoverküche der 1990er Jahre. Oft völlig zu Recht, bei Harald Wohlfahrt dagegen wünscht man sich, nie im Leben wieder anders bekocht zu werden. Die Vorspeise nämlich, "Krustentiergelee mit mariniertem Taschenkrebsfleisch, Afilakresse, Avocado und Koriander Dip", zeigte, was ein wahrer Großmeister des Abschmeckens aus diesem ausgelutscht geglaubtem Paradigma noch herausholen kann: Das wenige Fleisch, das so ein Edel-Taschenkrebs (kostet im Einkauf schon über 10 Euro/Portion) beherbergt, fand sich in Wohlfahrts Konstruktion gleich in drei Aggregatszuständen wieder: die intakten Mini-Scherenstränge zart mariniert im Ganzen, der fleischige Rest als minimal angeliertes Ragout, Karkassen und Gekröse als Auszug in der Form eines transluzent/grau-gestreiften Geleeblattes im Basement des Gerichtes. Diese Geleebasis hatte Wohlfahrt leicht mit Kaffirlimette aromatisiert, flankiert von den a part gesetzten, wundersam unseifigen Korianderdip-Halbkugeln – und irgendwo ganz tief drinnen sind sogar noch zwei, drei Tröpfchen geröstetes Sesamöl erschmeckbar. Keine Frage: dieser dish gehörte zu den fünf besten Tellern, die mir in den letzten Jahren serviert wurden.

 

Rolf Brönner, Restaurant-Leiter der Orangerie, Sommelier und Exil-Franke wählte hierfür wie auch zur 1. Vorspeise einen wunderbar fruchtbetonten, opulenten Saar-Riesling aus: den 2008 Scharzhofberger Großes Gewächs Reichsgraf von Kesselstadt – nachzuschmecken beim Kochmonster-Weinpartner Belvini, der den Vorgängerjahr für EUR 19,90/Flasche anbietet.

 

 
 
 
 

Zwischengericht

 

 

Als Zwischengang stand auf der Karte: „Glasiertes Kalbsbries mit Schupfnudeln und Steinpilzen in Trüffelbutter“. Serviert wurde im tiefen Pastateller auf einem nur sehr zurückhaltend getrüffelten Butter/Jus-Spiegel zwar panierte statt glasierte Drüse, was ihrer Zartheit aber nicht schaden konnte, zumal jede Menge Gänseleberwürfelchen zwischen den Schupfnudeln und den gehackten Steinpilzen und ein Berg Trüffelsplitter obenauf die Wertigkeit dieses Hochpreisprodukt-Zwischenfeuers würdig unterstrichen.

 

Brönner schaffte auch hier den Spagat einen Wein für zwei Gänge auszusuchen, was bei dem Erdnoten-Zwischengericht und den leichten Jod-Aromen des Fischganges echte Sommelier-Kunst erfordert: der 2008 Chardonnay „Select“ vom Wiener Weingut Fritz Wieninger – auch erhältlich für EUR 16,90/Flasche beim Kochmonster-Weinpartner Belvini.

 

 
 
 
 
 
 

Fischgang

 

 

Auf eben diesen Fischgang, „Rotbarbe mit gehobeltem Bottargaauf rotem Paprikaconfit und Escabechesud“, mussten die Gäste weitaus länger als geplant warten. Wir konnten von unserem Platz aus recht gut in die Küche spionieren und beobachteten, dass offenbar das Sous Vide-Gerät eine Fehlfunktion hatte: der Julabo lief heiß und kochte bei 100 Grad die portionsweise eingeschweißten Fischchen allzu gar – weswegen eine Charge komplett neu gemacht werden musste, schließlich spielt Wohlfahrt hier ein gewagtes Garzeitenroulette, das er (und der Gast) nur gewinnen können, wenn die Ziel-Kerntemperatur exakt erreicht, aber keinesfalls überschritten wird.

 

Nun, beim zweiten Anlauf gab es nur Sieger – auch weil der Fisch perfekt vorbereitet war. Rotbarben liefern der Hochküche mit die saftigsten Filets überhaupt, sind aber durchsetzt von gefühlten Millionen von Mini-Gräten. Niemanns Brigade hatte aber erfolgreich Überstunden gemacht und mittels Mini-Zange und Pinzette die Filets komplett entgrätet. Es musste also die in solchen Fällen übliche Drohung an den Apprendi auf dem Poissonnier-Posten nicht wahrgemacht werden (für jede übersehene Gräte 5 Sauteusen schrubben).

 

Dreisterne-würdig war auf jeden Fall die Barbenzubereitung: Kopf ab, längs bis kurz vor die Schwanzflosse geteilt, Haut ab, Gräten raus und die Filets wieder zusammengeklebt – so kommt der Fisch „im Ganzen“ zum Gast. Ex-Dreisterne-Kollege Dieter Müller nutzte hierfür in den letzten Jahren das Enzym Transglutaminase als Poisson-Pattex, Wohlfahrt, auf den Trick angesprochen: „Ich weiß, aber es geht auch anders. Wir haben ein Nori-Blatt in der Mitte und kleben die Filets mit ganz wenig Farce zusammen.“ Ein wunderbares Fischvergnügen, würdig mediterran interpretiert mit dem Escabechesud (das ist die Marinade mit etwas Zitrone, Olivenöl, Lorbeer und Knoblauch in der der Fisch kurz erwärmt und danach 24 Stunden mariniert wird), den z.B. auch Sven Elverfeld im Wolfsburger Aqua oder Patrik Kimpel Eltville am Rhein im Hotel Kronenschlösschen zur Rotbarbe reichen.

 
 
 
 
 
 

Fleischgang

 

 

Als Fleischgang kam ein in der Sternenküche gern als Herausforderung angenommenes Garzeiten-Duett: „Zweierlei vom heimischen Reh mit Karottenpüree und glasierten Apfelscheiben an Sauce Civet“. Letztere, vom Kellner a part nachserviert, ist in Deutschland eher bekannt als „Rehpfeffer“ und natürlich die ideale Ergänzung zu den rosa gebratenen Rehfilets-Tournedos und dem ellenlang gegarten Zylinder nebenan, dessen Hauptzutat, die Rehschulter, fast schon zu Confit-Fasern zerfallen war. Klar herausschmeckbar waren auch Leber und Blut, was Wohlfahrt später bestätigte: „Rehleber für den stark wildbetonten Geschmack und Blut zum Binden – in der „Traube“ nehmen wir dafür sogar Rehblut.“ In Timmendorf musste Kalbsblut reichen, was zusammen mit der Leber zu dfem gewünschten spitzen Geschmack führte, und diese Komponente bei einigen weiblichen oder weniger Gaumengeschulten Gästen des Abends diese Komponente nach kurzen Versuchen unangetastet auf den Tellern verbleiben ließ.

 

 

Doch die wahre Klasse eines Harald Wohlfahrt zeiget sich weniger in diesem handwerklich perfekten Fleischwerk, sondern einer winzigen Nebensächlichkeit. Die als Beilage gesetzten zwei Broccoliröschen schmeckten unerwartet intensiv und hatten neben den starken Wildaromen sogar eine deutliche eigene Stimme. Ein Vögelchen aus der Küche verriet uns zu fortgeschrittener Stunde den Trick: Wohlfahrt hatte den Kohl in asiatischer Fischsauce gedünstet.

 

 

Als Wein wurde ein wunderbar in sich ruhender Kaiserstuhl-Spätburgunder gereicht: der 2007 Oberrotweiler Eichberg Spätburgunder Weingut Freiherr von Gleichenstein Baden – auch erhältlich als 2008er für EUR 10,90/Flasche beim Kochmonster-Weinpartner Belvini oder als Barrique-Ausbau (der allerdings evtl. zu der bitteren Note des Rehpfeffers nicht ganz harmonieren könnte) für EUR 29,90.

 

 
 
 
 
 

Dessert

 

 

Nach einem Vordessert (ein leicht übersüßter Creme/Schokoladen-Dreier) taugte das Hauptdessert zum Gourmet-Paukenschlag: „Geeister Pampelmusen-Cocktail mit Litschikompott und Ingwer-Likörbonbon“ war mit einer Zuckergitter-Hemisphäre in der Größe einer ausgewachsenen Gloche überkront, an deren Spitze der Ingwer-Likörbonbon thronte

 

„Hauen Sie mit dem Löffel drauf“ sagte der Kellner – und tatsächlich ergoss sich nach dem Kick der angenehm wenig gesüßte, aber extrem intensiv riechende Ingwerlikor über das spannende süß-bitter-Spiel darunter und griff zusammen mit den Litschi wieder Wohlfahrts heimliche Liebe zur asiatischen Aromenwelt auf.

 

Ein Dessertwein wäre hier chancenlos gewesen, weswegen wir gerne auf Kaffee und Nonino-Grappa warteten, beides ebenso wie alles Wasser, Wein und alle Speisen für vergleichsweise milde 128 Euro pro Person Flatrate.

 

Die Antwort auf die Gretchenfrage können wir indes noch immer nicht abschließend geben: Für erprobte Einsternegaumen ist auch bei einem Wohlfahrt-Gastauftritt ein klares Genuss-Plus zu schmecken. Doch die ganze Wahrheit bleibt doch den Traube-Gästen vorbehalten, wo schon allein der Einkaufsrhythmus die Latte in den Himmel hängt: In normalen Einsternehäusern wird zwei Mal die Woche absolute Spitzenware eingekauft. Bei Wohlfahrt zwei Mal pro Tag.