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Thank You India

 

1,2 Milliarden Menschen in 28 Bundesstaaten auf einem Subkontinent fast so groß wie Europa – wie zum Teufel soll es da, was uns Abertausende „indischer Restaurants“ auf der ganzen Welt glauben machen wollen, so etwas wie eine „indische Küche“ geben,? Wir haben ja noch nicht einmal eine „deutsche Küche“, in der sich läppische 81 Millionen einstimmig auf Labskaus, Saumagen, Schweinskopfsülze und Dibbelabbes einigen können.

 

von Peter Wagner

 

Mit „der indischen Küche“ ist es denn auch so wie mit „der italienischen“ oder „der asiatischen“: Jeder, der schon mal an monothematischen Volksfestimbissen „Bombay Chicken“, „Pizza Margherita“ oder „Chop Suey“ gegessen hat, oder bei „Dinner For One“ an Silvester „Mulligatawny“ ohne Zungenkrampf aussprechen kann, kennt sich voll aus. Doch wie immer im Leben fangen die Probleme erst richtig an, sobald man die Sache weiter vertiefen möchte – sei es beim deutsch-indischen Kulturabend im Frauenbuchladen, beim Haschischhungerstillen in Goa, oder mutterseelenalleine in der heimischen Küche bei erfolglosen Nachkochversuchen von „Aloo-Tikkis“, „Bhelpuri“, „Jhaal-Muri“, „Aloo Gobi Mattar“, „Dhansak“, „Murg Mumtaz“ oder gar „Bombay Duck“, was frecherweise keine Ente, sondern eine Fischzubereitung an der Indisch-Arabischen See ist.

 

Wer bis jetzt nur „Bahnhof“ verstanden hat, liegt goldrichtig, denn die meisten kulinarischen Spezialitäten Indiens sind aus unserer westlichen Koch-Sicht echt abgefahren. Während es in Europas Hochküche anrüchig wird, wenn mehr als fünf Gewürze in ein Gericht kommen, fängt indische Würzkunst bei 15 Zutaten erst an. Dieser exotisch-würzige, für unsere Gaumen manchmal viel zu scharfe Aromenkuddelmuddel ist zumeist der erste, leider oft bleibende Eindruck der gustatorischen Indien-Begegnung.

 

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Ebenso schwierig gestaltet sich unser Versuch, die Jahrtausende alten Lehren über die drei doshas (Lebensenergien) kapha, vata und pitta bei einem zweiwöchigen All-You-Can-Ayurveda-Pauschalurlaub am Chowara-Strand in Kerala zu kapieren. Das liegt zum Einen an der komplexen dosha-Matrix mit unendlich vielen Kreuzbeziehungen zu den fünf Elementen und vieler weiterer Faktoren, die dazu führen, dass man trotz westlichem Verstandesapparat irgendwann vielleicht sein persönliches dosha-Gleichgewicht mittels hochfein ausbalancierter Lebensmittel in den sechs shadrasa (Grundgeschmacksrichtungen – auch salzig und adstringierend zählen dazu) findet, und sich dennoch total krank fühlt. Weil einem niemand gesteckt hat, dass jede Ayurveda-Balance immer nur in diesem Moment und an diesem Ort gilt und einen Monat später und eine Tagesreise entfernt wieder komplett neu austariert werden muss.

 

Ayurveda polarisiert die deutsche Indien-Fraktionen: Für die Einen ist es die lebenslang gesuchte und nach erfolglosen Volkshochschulkursen „Wege zum Ich durch rhythmisches Töpfern“ endlich gefundene Erleuchtung; Viele denken dabei aber nur an die Rotten Pinneberger Pilates-Petras, die sich in Punjab lauwarmes Livio über die Stirn laufen lassen und sich dann wundern, statt des erhofften Nirwanas nur einen Bad Hair Day gefunden zu haben – wie sollen sie das Öl auch aus den verklebten Haaren kriegen, wenn es weit und breit kein „Wash & Go“ gibt? Eat, Pray, Leave!

 

 

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Beim Nachkochen wird es noch komplizierter, denn Ayurveda-Rezepte ändern sich sogar nach der Jahreszeit, in der sich die Zutaten befinden. Wenn wir in Unterbiberg oder Oberhausen versuchen, nach einem indischen Kochbuch authentische Speisen zu zaubern, gleicht das einem Seiltanz ohne Netz. Dabei ist das Grundproblem überall auf der Welt gleich: innerhalb der starren Angaben eines Kochrezeptes intuitiv die Beschaffenheit der Zutaten in ihrer Schwankungsbreite (Frische, Lagerung, Temperatur und Luftfeuchte in der Küche...) intuitiv zu erspüren.

 

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So wie der geübte indische Kochschaffende dem Bündel Curryblätter auf dem Markt schon von Weitem ansieht, wie viel davon er wie lange im Mörser in seine Masala-Gewürzmischung einwerken muss, so liest auch der italienische Pizzaiolo mit seinen Fingerspitzen die momentane Befindlichkeit des Teiges – eine zutiefst spirituelle Fähigkeit, die ihm in Neapel locker sechstausend Euro im Monat einbringt.

 

Millionenschwere Hochküche gibt es auch in Indien: Überreste der Traditionen der Großmoguln in der Gegend von Dehli und Agra, mit teuren Zutaten (Safran, hochwertige Fleisch-Zuschnitte) ähnlich der Speisekarten vieler indischer Restaurants außerhalb Indiens. Ansonsten verlaufen die Gaumen-Demarkationslinien entlang der geographischen Verteilungen der Religionen und der Himmelsrichtungen: Im Norden viel Fleisch und Fisch, oft im Tandoori-Ofen gebraten und mit Fladenbrot (naan) gereicht.

 

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Die extrem scharfe und primär vegetarische Küche des Südens; die mit viel Joghurt, Kokos und Ingwer gekochten Speisen des bengalischen Ostens, sowie der reiche Westen mit seinen portugiesisch beeinflussten Spezereien, raffinierten Würzungen und dem leckersten Fastfood der Welt – Pao Bhaji, frittiertes Weißbrot mit Gemüsefüllung. Klingt alles kompliziert, ist es auch, wird zum Glück in dem jetzt endlich auch in deutscher Sprache erschienenen Indien - Das Kochbuch“ von Pushpesh Pant für alle Vertiefungswilligen hinreichend aufgedröselt.

 

Das weltweit beste Indien-Kochbuch ist endlich auch in deutscher Sprache erschienen.

 

 

Bei aller Diversität der indischen Küchenstile gibt es natürlich auch Verbindendes. Zum Beispiel die Faustregel: „Alle kochen mit Wasser. Nur die Inder nicht. Die kochen mit Ghee“. Je nach Gartemperatur wird in dieser geklärten Butter, die unserem Butterschmalz allenfalls ähnlich ist, gebraten, frittiert und (bis 100 Grad) tatsächlich oft auch gekocht. Das macht die Zutaten vegetarischer Mangelküche (Reis, Linsen, Kichererbsen, Kartoffeln) nahrhafter für die Inder – zugleich viele indische Speisen für figurbewusste Westler unmoralisch fetthaltig. Was wiederum für Inder völlig unverständlich ist, leuchten doch auch die Lampen in indischen Tempeln mit Ghee, und selbst die Toten werden vor der Verbrennung damit übergossen.

 

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Zweite Gemeinsamkeit quer durch alle Bundesstaaten ist die weltweit einzigartige Vielfalt des vegetarischen Kochens. Rindfleisch scheidet für die Hindus aus, neben Ghee verwenden sie von den heiligen Kühen nur die Milch (als Milchtee Chai das Volksgetränk), den Mist zum Düngen und als Baumaterial der Lehmhütten, sowie den Urin, der in den Tempeln so verwendet wird wie im christlichen Europa das Weihwasser (praktischerweise wirkt er sogar desinfizierend). Der ebenfalls große Bevölkerungsanteil der Moslems lässt Schweinefleisch keine Rolle auf den Tellern spielen. Schlecht für Lämmer und Hühner (an den Küsten auch für Fische), doch selbst deren Fleisch wird in der Gesamternährung eher als Beigabe zu den reichhaltigen Gemüse- und Hülsenfrucht-Gerichten gesehen.

 

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Überall sind auch ähnliche Tischsitten zu finden (keine Gangfolge, alle Schüsselchen stehen gleichzeitig auf dem runden Servierbrett thali, gegessen wird ohne Besteck mit den Fingern und etwas Brot).

 

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Genauso wie die Grundzubereitungsart „Curry“, was nicht die Gewürzmischung meint (die heißt in Indien Masala), sondern die Entsprechung zum westlichen „Eintopf“ oder „Stew“ darstellt und gern mit diversen sauer bis scharf eingelegten Pickles und Chutneys gereicht wird.

 

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Und hinterher, wenn alle längst satt sind, kauen sie noch munter weiter auf ihren paans. Diese in Betelblätter gewickelte Betelnüsse (Früchte der Arecapalme) enthalten angeblich keine süchtig machende Alkaloide, wirken je nach Laune appetitanregend oder verdauungsfördernd, auf jeden Fall aber färben sie den Mund samt Zähne tiefrot, was Indien-Novizen vor allem beim beliebten Ausspucken der Kau-Reste erschreckt.

 

Nicht gespuckt wird beim Verzehr von mitha paans, denn die süß gefüllten Betel-Wraps werden in glitzerndes varg eingewickelt. Mitten in all der Armut kauen Millionen Inder dieses essbare echte Blattsilber.

 

Thank You India.

 

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Alle Abbildungen stammen aus dem dem jetzt endlich auch in deutscher Sprache erschienenen Indien - Das Kochbuch“ von Pushpesh Pant .